Endlich ein freier Mensch sein!

So lautete der Titel der Matinee, zu der die „Ettie und Peter Gingold Erinnerungsinitiative“ am 17.02.2013 in das Frankfurter Titania-Theater eingeladen hatte. Anlass war der 100. Geburtstag von Ettie Gingold. Das Freie Schauspielensemble Frankfurt hatte gemeinsam mit der Initiative ein Programm erarbeitet, welches die nahezu 200 Gäste begeisterte.

Bettina Kaminski liest Ettie Gingolds Rede Bonner Hofgartenkundgebung 1983

Bettina Kaminski liest Ettie Gingolds Rede Bonner Hofgartenkundgebung 1983

Ettie Gingold, 2001 verstorben, war zeit ihres Lebens eine mutige, kämpferische und außergewöhnlich engagierte Frau: Kommunistin, Jüdin, Antifaschistin und Kriegsgegnerin.
Sie war 22 Jahre alt, als sie Mitte der 1930er Jahre aus der rumänischen Provinz nach Frankreich emigrierte. Dort organisierte sie sich in einer antifaschistischen Jugendgruppe, war Mitbegründerin der FDJ (Freie Deutsche Jugend) und kämpfte während der Naziokkupation in der französischen Widerstandsbewegung Résistance gegen den deutschen Faschismus. Sie war Kurierin, stellte Flugblätter her und sorgte für die Verteilung – z.B. an Treffpunkten deutscher Soldaten. Mit ungeheurem Mut und jeder denkbaren Entschlossenheit schrak sie vor keiner Anforderung zurück. Nach der Befreiung lebte sie mit ihrem Mann, Peter Gingold, in Frankfurt am Main und kämpfte in den Reihen der KPD für ein neues, antifaschistisches Deutschland. Bekannt wurde sie vor allem als Friedenskämpferin. Sie sammelte in den 50er Jahren Tausende Unterschriften unter den Stockholmer Appell und erneut in den 80er Jahren mehr als 12.000 Unterschriften unter den Krefelder Appell. Neben Willy Brandt, Heinrich Böll und Petra Kelly war Ettie eine der Rednerinnen auf der legendären Bonner Hofgartenkundgebung der Friedensbewegung.
Als Zeitzeugin sprach sie vor Jugendgruppen, Schulklassen und auf vielen Veranstaltungen der Gewerkschafts-, der Frauen- und der Friedensbewegung.
Die Stadt Frankfurt am Main ehrte sie 1991 mit der Verleihung der Johanna-Kirchner-Medaille.

Peter Christian Walther hält das Schlusswort

Der Ansturm auf die Matinee war enorm. Die Schauspielerinnen Bettina Kaminski, Naja Marie Domsel und Etties Enkel, Joscha Gingold, lasen aus einer Auswahl von Texten und zeichneten so die Biografie der Geehrten durch die Höhen und Tiefen des vergangenen Jahrhunderts sehr lebendig nach. Zu hören waren Auszüge aus Reden und Briefen von Ettie selbst, Zitate aus Peter Gingolds Autobiografie „Bouelvard St. Martin No. 11“ sowie Berichte von Weggefährten. Mit zwei Einspielungen aus einem Film- und einem Audiointerview kam Ettie selbst zu Wort. Esther und Joram Bejarano bereicherten gemeinsam mit Kutlu Yurtseven von der Gruppe Microphone Mafia das Programm mit ihren einzigartigen Bearbeitungen traditioneller Musik aus der antifaschistischen und Arbeiterbewegung. Etties Schwager, der 90-jährige Siegmund Gingold, war mit seiner Frau Hélène und seinem Sohn Marc aus Paris angereist und erinnerte in einer kurzen Ansprache an „unsere Mutter Courage“, wie er Ettie liebevoll nannte. Er hob hervor, wie es Ettie gelungen war für seine und Peters Eltern eine sichere Unterkunft zu finden und mit anderen Genossen deren Versorgung zu sichern, als die deutschen Faschisten Tag für Tag Juden in Paris verhaften und deportieren ließen.
In einer Gesprächsrunde erzählte Esther Bejarano von ihrer langjährigen Freundschaft mit Ettie; Katrin Raane erinnerte an zwei andere Freundinnen – Yvette Bloch und Henny Dreifuss – die ebenfalls als deutsche Emigrantinnen in der Résistance kämpften. Alice Cyborra ergänzte aus ihrer Tochterperspektive wie Ettie die Aufgaben als herausragende politische Aktivistin, als Mutter zweier Kinder und z. B. auch als legendäre Gastgeberin beeindruckend meisterte.
Als die Gäste sich nach der Matinee verabschiedeten war das Echo einhellig – das waren starke zwei Stunden der Erinnerung an eine starke Frau.

Mathias Meyers

Dieser Beitrag wurde unter 17. Februar 2013, Veranstaltungen veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

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